Liebe ist besser als Perfektion.
Von Hermann Gmeiner: Gründer SOS Kinderdörfer.
Hat nicht jeder von uns dann und wann das Gefühl, eine wichtige Chance versäumt, am eigentlichen Sinn des Daseins vorbeigelebt zu haben, das Gefühl, dass wir zwar an materiellen Gütern reicher, aber innerlich ärmer geworden sind? Was ist schuld daran, dass die Vermenschlichung unserer Welt hinter den Erwartungen, die wir an den Aufbruch aus der Zeit der Träume geknüpft haben, zurückgeblieben ist?
Niemand von uns wird wohl imstande sein, die letztlich gültige Antwort auf diese Frage zu finden. Doch jeder von uns kann seinen bescheidenen Beitrag zu ihrer Lösung leisten. Und was mich anbelangt, so möchte ich die Erfahrungen der vergangenen Jahre in dem Satz zusammenfassen, dass Liebe wichtiger als Perfektion ist. Es hat wenig Sinn, den ewigen Streit der Generationen anzufachen und einander vorzuwerfen, versagt zu haben. Es nützt nichts, voneinander und von der Gesellschaft eine menschenunmögliche Vollkommenheit zu verlangen. Je mehr sich die sozialen Krisen zuspitzen und je mehr uns der babylonische Turm der technischen Entwicklung über den Kopf zu wachsen droht, um so wichtiger wäre für uns alle, die Fähigkeit in uns wiederzuentdecken, die sich in der schlimmsten Not bewährt hat. Es ist die Fähigkeit, einander zu vertrauen, einander Halt zu geben, einander zu lieben. Sie ist imstande, unsere allzu menschliche Unzulänglichkeit aufzuwiegen.
Angesichts der gefährlichen unsicheren Zukunft geht es vor allem darum, zu zeigen, dass jeder Fortschritt im Bereich des Menschlichen gleichbedeutend mit der Bemühung ist, sich über alles Trennende hinweg einander zuzuwenden. Hängt die Verbesserung der Qualität unseres Lebens nur von technischen und zivilisatorischen Errungenschaften ab? Nicht auch von der Ernsthaftigkeit und dem Erfolg unserer Bemühungen, unsere Welt gesünder, gerechter und friedlicher, dem Menschen entsprechender zu machen? Geht es nicht immer, zum Beispiel in der Erziehung, bei der Versorgung der Märkte, beim Bau unserer Städte und Dörfer oder bei der Behandlung aller Probleme unseres Zusammenlebens in der Gesellschaft, letzten Endes um mehr Menschlichkeit?
Der Mensch ist zwar unvollkommen. Er ist kein perfekter Idealist und von Natur aus keineswegs nur dafür geschaffen, hochgespannte Vorstellungen vom wahren Menschsein in die Tat umzusetzen. Aber er besitzt die Fähigkeit, seine Unzulänglichkeit Schritt für Schritt zu überwinden. Er kann aus Erfahrungen lernen, dass nicht nur das gut ist, was ihm augenblicklich am meisten nützt. Er kann auf lange Sicht planen. Und er ist auch imstande zu begreifen, dass zwischenmenschliche Bindungen und gegenseitige Verpflichtung nicht nur ein unangenehmes, notwendiges Übel, sondern eine Chance sind, mehr für die Bewältigung des Daseins und unser gemeinsames Wohlergehen zu leisten, als es der Einzelne vermag.
Wer nicht so denkt, denkt eigentlich nicht realistisch. Denn realistisches Denken ist nicht gleichbedeutend mit Fatalismus und stumpfer Resignation der Selbstsucht und Eigenliebe! Wir helfen einander, wenn wir in Not oder krank sind. Dabei handeln wir bestimmt nicht gegen unsere Natur. Und wir sind auch im Einklang mit ihr und der Vernunft, wenn wir im Namen aller für Kinder sorgen, die unsere Hilfe brauchen. Es spielt dabei keine Rolle, ob Sie 10 Km oder 10.000 Km von uns entfernt leben und leiden. Dabei kommt es sehr darauf an, dass wir ein kleines persönliches Opfer bringen und zur Pflege der menschlichen Gesinnung beitragen und nicht zur Demontage der Menschlichkeit, die in unserer materialistisch orientierten Welt bedenklich um sich greift und täglich erdrückender wird.
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